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Angekommen in der Überwachungsstaat-Dystopie

Seit dem gewaltsamen Tod der couragierten Kurdin Mahsa Amini in den Händen der iranischen Sicherheitskräfte, reißen die Proteste gegen das Regime nicht mehr ab. Warum im Gegensatz zu früheren Aufständen dem Patriarchat ihre Niederschlagung nicht mehr gelingen mag, könnte auch an der unmenschlichen Erfahrung mit der dystopischen iranischen Wirklichkeit zusammenhängen.

„Mein Gefühl ist eines der Hoffnungslosigkeit“, wird eine Frau auf trust.org zitiert und spielt damit nicht auf die Erfolgsaussichten der gegenwärtigen Massenproteste an. Seit 1979 werden im Iran Frauen von religiösierten Männern in ein Korsett von Vorschriften gepresst und bei Widerstand in den Knast geworfen. Aber seit der Wahl des neuen Präsidenten änderte sich rasch sehr vieles.

Die Zahl der vom Staat im Rahmen von so genannten Hinrichtungen ermordeten Menschen stieg 2021 um ein Viertel auf 333. Heuer liegt die Zahl der staatlichen Morde bereits bei 415. Auch vor Kindern, Minderjährigen und Frauen macht die Tötungsmaschine nicht stopp. (Quelle: https://iranhr.net/en/). In diese Verfassung des Regimes passt auch, dass diesmal bei der Aufstandsbekämpfung weniger auf die bei allen Polizeien der Welt gleichermaßen beliebten euphemistisch als nicht-letal bezeichnete, sondern explizit auf tödlich wirkende Waffen gesetzt wird. Dafür liegen Beweise vor.

Auch im Iran hätte das nicht so laufen sollen, das mit der anlasslosen Überwachung. Der Überwachungsstaat wurde propagiert, um Diebe und Kriminelle zu fangen. 2015 wurden im Iran die Personalausweise digitalisiert. Neben persönlichen Daten werden ab damals auch biometrische Daten gespeichert: Fingerabdrucke, die Iris und Daten der Gesichtsvermessung. „Aber das Gesichtserkennungssystem wird nur gegen uns eingesetzt“, wird heute von Frauen festgestellt. „Die ganze Zeit überlege ich, was tun, wenn sie mich mit schlecht sitzendem Hijab erfasst haben. Wie kann ich mein Leben retten?“

Graffiti: Ihre Sicherheit ist unser Knast
Graffiti: Ihre Sicherheit ist unser Knast Ⓐ

Das Regime in Teheran lässt seine Polizei morden und verstümmeln, verhaften und verfolgen wie das auch die Polizei in Minsk, in Paris oder Athen macht. Der Unterschied in den eingesetzten Härtegraden liegt mehr daran, wie ausgeleiert die Zügel der Herrschenden zu sein scheinen. Und wie bei der Sicherheitsapparatur auf der ganzen Welt wird auch im Iran so genannte Künstliche Intelligenz, zum Aufspüren unliebsamen Verhaltens eingesetzt. Und da wie dort wird die Bevölkerung um die werte Mithilfe gebeten, wenn es um die Sicherheit der willigen Beobachter:innen geht. Ein Migrant auf der dunklen Grenzautobahn, Notruf hier, bitte schön, und ein verrutschter Hijab auf der Fahrt in die Arbeit, dort, gerne: Überall kann die Polizei nicht alles sehen.

In dieser bodenlosen Respektlosigkeit des Staates vor dem Menschen gab diese Erkenntnis aber auch etwas Trost. Ein letzter Schutz, eine letzte Hoffnung, möglicherweise Unzulänglichkeit eventuell. Stattdessen nun die Byte-Abfolge technokratischer Perfektion ohne falsche Skrupel. Nicht einmal Hohn und Verachtung. Nichts lässt sich mehr umdrehen. Die Maschine hat fertig und dich als Täter_in markiert.

Die Strafandrohnung wegen dem Verbrechen gegen Bekleidungsvorschriften wird vom System nach Hause geschickt. Erfasst wurde es nicht von der im Westen gerne beschriebenen Moralpolizei, sondern von einer öffentlich aufgehängten Überwachungskamera. Danach werden die Aufnahmen mit den bei der Ausweisdigitalisierung generierten Daten durch eine Gesichtserkennungssoftware abgeglichen und bei erfolgreichem Scan der Bestrafungsmechanismus getriggert. Ein automatisiert angefügter Profilingeintrag wird für die Autoritäten hilfreich sein, bei der Risikoabschätzung künftiger Proteste.

Jin Jiyad Azadî Frauen Leben Freiheit

Für Mahsa Amini

Quelle: https://news.trust.org/item/20220921162019-568vk/

Weiterlesen:
Auf dem nicht SSL-gesicherten slowenischsprachigen Literaturblog http://vrabecanarhist.eu/shiva-nazar-ahari-interview/ wurde 2019 die geflüchtete Journalistin Shiva Nazar Ahari zum Leben und zu den Bedrohungen im Iran interviewt. Shiva Nazar Ahari wurde durch die Städteinitiative ICORN resident in Ljubljana City of Refuge. Derzeit gehören weltweit 78 Städte wie Bratislava, Bern, Ljubljana diesem Netzwerk an, das verfolgten Schriftsteller_innen, Künstler_innen und Journalist_innen einen sicheren Ort bietet, Rede- und Ausdrucksfreiheit sichert und Menschenrechte garantiert. Eine österreichische Stadt befindet sich nicht auf der Liste.
International City of Refuge Network https://www.icorn.org/


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