Wir sind Krise

Die Krise als Chance? Während die Krisenmacher immer reicher werden, glauben die Krisenbeobachter an Chancen.Die Rekordhöhen für Rohstoffe wie Öl sind eine Blase, die jeden Moment platzen wird, schreibt Larry Elliot im britischen Guardian.

Die gegenwärtige Krise ist die Chance für eine globale, nachhaltige Entwicklung schreibt der Volkswirt Werner Raza im österreichischen Standard. Und ebendort schreibt Slavoj Zizek, dass die Krise alle zu verschlingen droht und einzig dieser Imperativ der letzte Ausweg ist: Seien wir realistisch, fordern wir das Unmögliche!

Wolf D. Prix vom Archtitektur-Büro Coop Himmelblau ist wiederum skeptisch. Krisen sind ein Mittel der Herrschaft zur Disziplinierung der Massen, sagt er in einem Radio-Interview, und eine Radio-Moderatorin im bayerischen „Zündfunk“ fragt, warum Demokratie ohne Kapitalismus nicht denkbar ist. Und was sagt meine liebste Politikerin auf dem gesamten Erdenrund, Bundeskanzlerin Angela Merkel: Von 14 ErdenbewohnerInnen ist nur mehr einer Europäer. Deswegen, liebe Europäer und Europäerinnen, geht hinaus in die Welt und predigt den restlichen 13 unsere Werte, weil die sind wirklich die besten.

Der Kakaobauer in Ghana hört es mit Freude, dass die Kakaopreise von allen Rohstoffen die beste Performance hingelegt hat. Allein seine Einkünfte werden auf dem gleich niedrigen Niveau dahin dümpeln. Aber das ist eben auch Teil unseres Wertesystems, von dem wir ihn überzeugen müssen. Müssen wir?
Bundeskanzlerin Angela Merkel tritt zur Zeit gegen eine geplante EU-Richtlinie gegen Diskriminierung an. Enthalten soll auch ein Passus sein, der eine Begünstigung von verheirateten Paaren gegenüber unverheirateten als diskriminierend einstuft. Das Eintreten gegenüber Benachteiligungen von anderen Lebensentwürfen endet in Merkels universellem Wertesystem offenbar dort, wo meine Werte nicht mehr ihre sind.

Ich habe beim besten Willen keine Erklärung dafür, warum Bundeskanzlerin Merkel micht nicht mag, mir implizit unterstellt, geistiger Nicht-Europäer zu sein. Dafür trifft sich „ihre“ Konrad-Adenauer-Stiftung lieber mit dem Verantwortlichen am größten Polizei-Massaker an AktivistInnen der brasilianischen Landlosenbewegung MST zum strategischen Gedankenaustausch gegen autoritäre Regime in Lateinamerika. Aber das ist eine andere, zynische Geschichte.

Der demokratisch verbrämte Kapitalismus wird tatsächlich immer dreister. Und Werner Raza hat wahrscheinlich recht, wenn er schreibt, dass die resultierenden Folgen die essentiellen Dinge des Lebens wieder zurechtbiegen. Nahrungsmittel wurden seit dem Entstehen der nördlichen Wohlstandsgesellschaft systematisch unterbewertet. Rohöl hatte am Weltmarkt verschenkt zu werden und ermöglichte erst ungezügelte Mobilität, unkontrollierte Umweltverschmutzung, hemmungslosen Konsumismus, weltweit verteilte Produktionsprozesse. Bis zum jetzigen Endpunkt dieses Prozesses die Hegemonie der virtuellen Spekulationsökonomie das Herrschaftssystem der Realwirtschaft ablöst und in der Lebensrealität aller zur unausweichlichen, apokalyptischen Tatsache wird.

Warum sollte sich daran was ändern? Slavoj Zizek analysiert zwar, dass durch die 68er-Bewegung nur der wertreaktionäre Kapitalismus durch einen hedonistischen Kapitalismus ersetzt wurde, aber er liefert keinen Erklärungsversuch, warum sich diesmal an diesem „Prinzip“ des Wechsels von einem Herrschaftssystem zum andern was ändern sollte.

In einer Zeit, in der nicht einmal mehr die Selbstzerstörung für den kleinen Lustgewinn allgemein toleriert wird, kann da von Menschen ernsthaft ein Eintreten für das abstrakte Unmögliche erwartet werden? Kann von Menschen, die in den letzten zwei Generationen von Geburt an mit einem menschenwürdigen Begräbnis rechnen konnten und nun ihre Lebensstandards von banalen Dingen wie Brotpreisen gefährdet sehen, erwartet werden, dass sie ihre beruflichen und familiären Existenzen aufs Spiel setzen? Wer hat einen freien Kopf für solche Überlegungen, wenn gerade ganz persönlich gegen „die Krise“ gekämpft wird?
Es braucht eine Hegemonie einer Ideologie der Sorglosigkeit, der geringen Ernsthaftigkeit und des Flatterhaften, um wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. Ein Ende der Disziplinierung in den Köpfen.

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