Die soziale Unruh

Man muss so ein Uhrwerk ordentlich zerlegen, um zu sehen, wie es tickt.

Das gute am mechanistischen Zeitalter war bekanntlich, dass sich die TechnikerInnen um Abbilder der Wirklichkeit bemühten.

Wir denken an Michelangelos Vogelschwingen, an denen frühe Piloten hingen. An Uralt-Schreibmaschinen, bei denen sich die Anschläge oft verhedderten, weshalb auf Computertastaturen völlig anachronistisch immer noch mit dem qwertz-System gearbeitet wird. Oder eben an ein analoges Uhrwerk. Das rückseitige Gehäuse anheben, und das Innenleben kann bestaunt und weiter erforscht werden: Verschieden geformte Metallplättchen, mit feinen Schrauben befestigt, die Feder, deren Entspannung die Uhr antreibt, die Zahnräder, die geneigte BesucherInnen von Kirchturmuhren erwarten würden, sind dagegen meist versteckt. In der Tiefe des flachen Gehäuses bewegt sie sich: Hin und her. Unrund und doch regelmäßig im Takt schwingt sie sich, eiert in der Uhr herum wie Tarzan auf der Liane: Die Unruh. Wegen ihr weiß die Uhr, wie die Zeit tickt.

In der taz brachte der Philosoph Thomas Seibert, seine Hoffnung zum Ausdruck, dass die soziale Unruhe bald ausbrechen möge, um Ärgeres, die breite Front der FreundInnen des Kackfarbenen zu verhindern.

Jahrzehntelang drehten die Zahnräder ihre exzentrischen Kreise, trieben die Uhr weiter, takt- und rücksichtslos. Immer schneller, schwindlig. Die soziale Unruh legte sich derweilen zur Ruh. Ruhig- und zufriedengestellt. Abgebrochen und zermalmt liegt der Minutenzeiger am Ziffernblatt. Der Stundenzeiger hängt in einer Ecke des 12-Stunden-Kreises, behäbig hebt er nach vorne an, um doch wieder in seine alte Position zurückzufallen.

Steht die Zeit still?

Flashback, Fallback, Retro? Hat sich die Zeit jemals bewegt?

Der Reisende in der spanischen Extremadura sieht dort, wo auf der Karte die Straße abzweigt, allerorten nur einen Schranken, ein Gatter, ein Tor: Prohibido. No pasaje. Verboten. Kein Durchgang. Ein paar Clans besitzen das Land und sperren alle aus. In Frankreich, Irland, Deutschland, überall dasselbe.

Wegegebot: Hier darf noch gegangen werden, die Drohung steht im Raum
Wegegebot: Hier darf noch gegangen werden, die Drohung steht im Raum

In Österreich wurden nach Durchsetzung demokratischer Verhältnisse in der ersten Republik Landesgesetze erlassen, die regeln, unter welchen Umständen (Berg-)Land betreten werden darf. 1975 wurde bundesweit ein Forstgesetz erlassen, wonach alle Wald zu Erholungszwecken betreten dürfen. Wir befinden uns im Zeitalter nach einer sozialen Unruh und die Großgrundbesitzer gaben lautstark, aber klein bei. Die Machtverhältnisse waren andere als heute.

Die Zeiten ändern sich, die Uhr tickt weiter

Schleichend, aber nachhaltig wurde das Recht auf Betretung ausgehöhlt. Ganze Berge wurden in der Steiermark oder in Kärnten von Industriellen, Baulöwen und  Sportstars aufgekauft. Oder noch einfacher und billiger: Erbe und Schenkung. Dann Absperrung, Abriegelung, Ausschluss der Nichtbesitzenden. In Salzburg schwelt seit Jahren ein Konflikt um den Verkauf eines riesigen Teils des Tennengebirges an einen Holzindustriellen. Die Berichte von WandererInnen, TourengeherInnen und MountainbikerInnen über Begegnungen mit GrundeigentümerInnen und deren KomplizInnen im Internet sind zahlreich.

Die österreichische Journalistin Barbara Coudenhove-Calergi sah sich auf einem österlichen Spaziergang in der Südsteiermark statt auf einem Wanderweg auf abgesperrtem Privatgrund eines „Neureichen“ wieder und stellt die berechtigte Frage, wie sich die österreichische Tourismuswirtschaft dazu verhält und wie es mit dem Recht auf Schönheit in diesem Land bestellt ist?

Nicht die lächerlichen, nur mit Blick auf christliche Tradierungen erklärbaren Phrasen nach Schuld und Sühne (unser Krise, eure Krise) sind entscheidend, sondern: Wem gehört das Land?

Die soziale Unruh hilft dabei etwas auf die Sprünge und sorgt dafür, dass die Uhr wieder richtig tickt.

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