Der Bahnhof mit Herz

wien hauptbahnhof
wien darf nicht stuttgart werden

Eine Kältewelle überrollt Europa. Eine Gefahr für das Leben und die Gesundheit von tausenden Menschen ohne Unterkunft. Doch die österreichische Staatsbahn beweist Herz.

Die Bahnhofoffensive Neu

Die Krise fordert Opfer. Das Sparprogramm ist auf Schiene, verkündet heute die Bundesregierung, und die Verhandlungen sind im Endspurt. Eine Drohung für alle, die soeben ihre Guthaben bei Banken, Versicherungen und anderen Finanzdienstleister_innen aufgelöst und in reale Werte wie Eigentumswohnungen, Grundstücke, Häuser oder Offshore gebunkert haben? Das – zeigt die Erfahrung – leider nicht.

Der existenzielle Unterschied, der inzwischen auch für europäische Verhältnisse konstatiert werden muss, geht ans Eingemachte: Die Modernisierungsverlierer_innen, um eine 90-er-Jahre-Wort zu reaktivieren, verlieren nicht nur Lebenschancen und -perspektiven, sie verlieren auf Grund exogener Einflüsse, wie zur Zeit dem Wetter, gleich ihr nacktes Leben.

Zu unser aller Glück haben wir Facebook und können die österreichischen Staatsbahn ultimativ auffordern, Herz zu beweisen: Lasst tausend Obdachlose nicht (er-)frieren. Diesem Ruf können sich die ÖBB nicht verschließen. Solange es kalt ist (wie kalt?) werden beheizte Räumlichkeiten in Bahnhöfen als Not-Unterkunft zur Verfügung gestellt. Und es wäre nicht Österreich, wenn nicht in diversen Internetforen Stimmen laut werden, die durch diese Notmaßnahme die Ertragsfähigkeit der ÖBB gefährdet sehen.

Was zählt ein Menschenleben? Wie viel wollen wir es uns kosten lassen? Und wie viel kostet es die privaten Betreiber_innen der „Westbahn“?

Von Occupy zur Gnade

1998 startete die ÖBB die Bahnhofoffensive. Die Marke Bahnhof wurde in den Köpfen dingfest gemacht. Ein freundlicher Ort, an dem sich alle gern aufhalten, lautete die Vorgabe. Ein Shopping-Center mit Gleisanschluß, bringt es Robert Sommer in seinem Buch Wie bleibt der Rand am Rand auf den Punkt.

Robert Sommer umkreist die Bahnhofoffensive nur kurz, um zum buchstäblichen, aber letalen rhetorischen Schlag auszuholen. Robert Sommer hält sich in dem Buch nämlich nie lange mit Nebensächlichem auf. Eine Überschrift genügt ihm, um behende  zum springenden Punkt zu kommen. Orte, die vor dieser Offensive temporär von Adressenlosen, vorwiegend des Nachts, okkupiert wurden, wurden im Zuge dieser Offensive auch unter Einsatz physischer Gewalt gesäubert. Private Unsicherheitsdienste übernahmen diesen Drecksjob für die staatliche Bahn, recherchiert Sommer.

Almosen für die Armen

2012 ist der Stand der Dinge dieser: Wir sind gütig.

Der Öffentlichen Hand sind die Hände gebunden. Wenn’s wirklich schlimm wird, teilen wir auch gerne. Aber niemand soll sich erlauben, bei mir einzubrechen.

Den jungen Herrn, der in diesen kalten Nächten vor meiner Tür sitzt, möchte ich gerne mal zu einer Tasse Kaffee einladen.

Aber jeden Morgen, an dem ich die Tür öffne, um meine Zeitung aufzuheben, springt er auf und läuft davon.

Lese-Tipp:
Robert Sommer, Wie bleibt der Rand am Rand, Reportagen vom Alltag der Repression und Exklusion, Mandelbaum-Verlag. Erhältlich bei Ihren Augustin-Kolporteur_innen.

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