Zur Konstruktion von Notstand

Grafik zeigt das Verhältnis von Flüchtenden und Gebäuden pro Einwohner_in in Österreich im Jahr 2015. Basis: Zahlen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs
Refugees und Gebäude pro Einwohner_in in Österreich (2015). Basis=100

Außerordentliche „Notmaßnahmen“ seien erforderlich, deshalb werden Flüchtende in Österreich ab sofort in Zeltlagern untergebracht, verlautete das Innenministerium gestern.

Was ist Schreckliches passiert?

Grafik: Entwicklung der Zahl der Gebäude in Österreich im Vergleich mit der Zahl an Flüchtenden. 1945 bis 2015.
Grafik: Entwicklung der Zahl der Gebäude in Österreich im Vergleich mit der Zahl an Flüchtenden. 1945 bis 2015.

Nichts. Rein überhaupt gar nichts.

Die Produktion von Katastrophenbildern und das permanente Lancieren von scheinbaren Bedrohungsszenarien gehört seit Jahren zum Propagandarepertoire dieser Republik.
Sprachanalytikx Lann Hornscheidt bezeichnet diese gezielte Methode als verantwortungslos: „Diese Metaphern wirken auf einer unbewussten Ebene, weil dadurch in den Köpfen der Menschen Bilder von großer Bedrohung entstehen. Das löst Ängste aus.“

Die Bilder ertrunkener Refugees werden zynisch dazu benützt, die Migration nach Europa als eine Art Naturphänomen darzustellen. Naturkatastrophen wie „Flüchtlingswellen“ (siehe Hornscheidt) erzeugen besondere Situationen, die mit alltäglichen bürokratischen Abläufen nicht bewältigbar sind. Protokolliert werden diese trotzdem in einer technokratischen Routine, so wie meterologische Ereignisse.

"Höchststand seit dem Beginn der täglichen Aufzeichnungen" Screenshot: orf.at
„Höchststand seit dem Beginn der täglichen Aufzeichnungen“ Screenshot: orf.at

Wie am Rande von Kriegsgebieten werden seit gestern in diesem Land erstmals seit der austrofaschistischen Diktatur Anhaltelager als „Zeltstädte“ errichtet.

Was sind die Fakten, die diese Lager notwendig machen?

Vorweg: Es gibt keine.

Das Innenministerium behauptet eine unbewältigbare Zunahme an Flüchtenden, deren Anzahl mit der Zahl an Asylanträgen gleich gesetzt wird. Zum einen wird damit suggeriert, dass die Zahl der Menschen, die es hierher schaffen, gleich der Zahl jener Menschen sei, die von der Polizei gefasst werden und daher gezwungen sind, einen Asylantrag zu stellen. Tun Flüchtende das nicht, werden sie im Fall einer Konfrontation mit der Polizei sofort deportiert.
Selbstverständlich hat die Staatsgewalt keine flächendeckende Kontrolle der Grenzverläufe. Wer keine realistische Chance auf einen positiven Asylantrag hat, stellt erst gar keinen Antrag, meidet öffentliche Institutionen und sucht Hilfe auf informellem Weg.
Zum anderen wird hier ein völlig unrealistisches Bild der totalen Kontrolle und Handlungsfähigkeit gezeichnet.

Wer Medienberichte aufmerksam verfolgt, kann davon ausgegehen, dass die Zunahme an Asylanträgen von Jänner bis März 2015 um rund 150 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum zum Teil durch verstärkte Repressionsmaßnahmen auf bekannten Migrationsrouten bedingt ist. Und nicht, wie die Zahlenmystiker_innen plausibel machen wollen, dass eine gigantische „Flüchtlingswelle“ im Anrollen sei.

Was wir hier vorgeführt bekommen, knüpft an die konservative Tradition der rassistischen Erzählungen, wie sie die Anglist*in Susan Arndt in der taz aufzeigt, an:

„Das „weiße“ christliche Europa ist nichts als ein konservativer Mythos. Aber mächtig. Sich auf Herkünfte berufend, verschließt er Europa. Im Ergebnis wird das Mittelmeer, wie einst der Atlantik, zum Massengrab afrikanischer Menschen. Einst wie heute, im kolonialen wie im Schengen-Europa, sucht(e) Europas Unrecht Zuflucht in rassistischen Erzählungen und Wörtern.“

Deshalb ist es eigentlich vollkommener Quatsch, in diesen „Diskurs“ sachlich einzusteigen. Dennoch kann die plumpe Konstruiertheit dieses „Notstands“ gezeigt werden. Das ideologische Kalkül und die Motivation dahinter liegen ohnehin auf der Hand.

Der Blick in die Vergangenheit schärft das Bewusstsein für die Gegenwart.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs flüchteten 1,6 Millionen Menschen nach Österreich. Ergebnis dieser Migrationsbewegung war, dass in der zweiten Hälfte der 1940-er Jahre die Zahl der Einwohner_innen im Vergleich zum Kriegsbeginn gleich gering (oder: gleich hoch) war. Zudem war sie höher als in den 1950er-Jahren. Die Darstellung der Werte der Vergleichsjahre 1956 (Ungarnaufstand), 1968 (Prager Frühling) bzw. 2015 (Anhaltelager-Neu) sind relativ zur Grafik 1945/1946.

Flüchtende und Gebäude pro Einwohner_in in Österreich nach Ende des Zweiten Weltkriegs
Flüchtende und Gebäude pro Einwohner_in in Österreich nach Ende des Zweiten Weltkriegs

Der Gebäudebestand (ab 1951) pro Einwohner_in wurde mit der Zahl der Flüchtenden pro Einwohner_in (ab Kriegsende, hier mit 1945/46 definiert) in Beziehung gesetzt. Basis ist der jeweils verfügbare älteste Wert (=100) (siehe ebenfalls Diagramm oben).

Flüchtende und Gebäude pro Einwohner_in in Österreich nach Niederschlagung des Ungarnaufstands im Jahr 1956.
Flüchtende und Gebäude pro Einwohner_in in Österreich nach Niederschlagung des Ungarnaufstands im Jahr 1956.

Ungarnaufstand 1956: Zuerst flüchten KP-Kader aus Furcht vor Racheakten nach Österreich. Nach der Niederschlagung des Aufstands flüchten die Aufständischen. Binnen weniger Wochen migrieren 180.000 Ungar_innen nach Ostösterreich. Obwohl es damals um 1,2 Millionen Häuser weniger gab (die offizielle Einwohner_innenzahl war um 1,6 Mio geringer), konnten die Flüchtenden in Gebäuden untergebracht werden. Wer nicht in öffentlichen Gebäuden eine Unterkunft fand, wurde von der Bevölkerung aufgenommen, wie das Rote Kreuz berichtet.

Flüchtende und Gebäude pro Einwohner_in in Österreich nach dem Ende des Prager Frühlings im Jahr 1968
Flüchtende und Gebäude pro Einwohner_in in Österreich nach dem Ende des Prager Frühlings im Jahr 1968

Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings zeigt sich das gleiche Bild, die gleiche Story. Gebäude gibt es inzwischen mehr. (Nachdem die Bevölkerungsmehrheit das Land mit ihrem Krieg absichtlich zerstörte, arbeitete sie ebenso hart und selbstaufopfernd am Wiederaufbau.)
Das Gebäude wird in der Grafik entsprechend größer dargestellt, die Zahl der Flüchtenden entsprechend kleiner.
2014/2015: Für das Kalenderjahr 2015 können klarerweise keine Zahlen vorliegen. Die angeführten 42.000 Flüchtenden sind eine lineare Fortschreibung (+150%) des Trends aus dem 1. Quartal 2015 auf Basis der Gesamtzahl 2014 (=28.000).

Weitere Erläuterung zu den angegebenen Werten:
Nicht immer war es möglich, exakte Vergleichswerte für einen Zeitraum zu finden. Gewählt wurde daher der Wert, der dem Vergleichszeitraum am nächsten war.
Beispiele:
Flüchtende: Kriegsende, Zeitraum 1945/46, die 1,6 Mio Geflüchteten sind eine Schätzung auf Grund ausgebener Lebensmittelmarken.
Gebäude: erster verfügbarer Wert 1951, 1961, etc. Werte für 1955 bzw. 1968 wurden interpoliert, letzter verfügbarer Wert 2013.

 

Links:
Was tun? Sprachhandeln – aber wie? W_Ortungen statt Tatenlosigkeit. http://feministisch-sprachhandeln.org/

Credits:
Many thanks to alice-d25 for the great piece of work (clip art) Refugees Welcome (not so heteronormative) @ https://openclipart.org/detail/213192/refugees-welcome-not-so-heteronormative

Links zu Datenquellen:
http://www.unhcr.at/service/zahlen-und-statistiken.html
http://www.unhcr.at/unhcr/in-oesterreich/fluechtlingsland-oesterreich.html
http://sciencev1.orf.at/gastgeber/146108.html
http://wko.at/statistik/Extranet/Langzeit/Lang-BIP.pdf
http://www.statistik.at/web_de/statistiken/bevoelkerung/bevoelkerungsstand_und_veraenderung/bevoelkerung_im_jahresdurchschnitt/022311.html
http://www.statistik.at/web_de/statistiken/wohnen_und_gebaeude/bestand_an_gebaeuden_und_wohnungen/index.html

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