Scharfe Schüsse an der Grenze

Ein Schrebergarten wie ein Staat: Willkommen hinterm Stacheldraht!
Ein Schrebergarten wie ein Staat: Willkommen hinterm Stacheldraht!

„Eine syrische Geflüchtete wurde von Grenzpolizei angeschossen, innerhalb des Schengen-Raums, an der slowakisch-ungarischen Grenze. Kaum Aufmerksamkeit. Keine Demonstrationen. Kein Aufschrei. Ein Vorfall von vielen. Empörung bleibt aus“, schreibt Anja Svobodovna in der Graswurzelrevolution 410 und befürchtet im weiteren eine „Normalisierung von menschenverachtender Politik“.

„Der beinahe tödliche Schuß eines Grenzgendarms auf einen unbewaffneten rumänischen Migranten ist eine Konsequenz dieser rassistischen Politik, und die öffentlichen Reaktionen auf diese Tat fügen sich nahtlos in den rassistischen Grundkonsens in diesem Land ein“, berichtet das Tatblatt Nr. plus 82.

Was war laut Tatblatt geschehen?

„Dieser Tage löste der Versuch einer zwanzig bis dreißigköpfigen Gruppe von RumänInnen, die grüne Grenze zwischen Kärnten und Italien zu überqueren, eine Menschenjagd sondergleichen aus.

Die Gruppe wurde am 26. August gegen 22.00 Uhr von einer Streife des Grenzüberwachungspostens Tschau mit Hilfe von Nachtsichtgeräten entdeckt. Was in der Folge im Detail passierte ist schwer zu eruieren, da die Informationen fast ausschließlich von der Gendarmerie stammen. Sicher ist, daß von Exekutivbeamten Warnschüsse abgegeben wurden, um die Flüchtenden zu stoppen. Sechs Frauen blieben daraufhin stehen. Sicher ist auch, dass der Beamte der den Mann niederschoss, dies absichtlich und gezielt tat (Der Leiter des Landesgendarmerie- kommandos Kärnten, Hugo Reisinger: „Mit letzter Kraft hat er daraufhin einen gewollten und gezielten Schuss auf den Hauptangreifer abgegeben.“), und daß der Rumäne unbewaffnet war. Die rumänischen Frauen gaben an, dass der Mann am Boden lag, als der Beamte auf ihn schoss. Von Seiten der Gendarmerie wird behauptet, der Beamte hätte sich in Lebensgefahr befunden, weil er von einem (später wurde behauptet von fünf) Rumänen angegriffen worden wäre und dieser versucht hätte, ihm die Waffe zu entwenden.

Die Schüsse waren erst der Auftakt zu einer Großaktion der Exekutive. 87 Beamte, die zum Teil aus benachbarten Bezirken angefordert wurden, machten sich mit zehn Hunden und später auch mit Hubschrauberunterstützung auf die Jagd, um die Menschen, die im Verdacht standen ein Verwaltungsdelikt (!) begangen zu haben, zu fangen. Die Bevölkerung wurde ersucht, angesichts der „Fremden“ nicht in „Panik“ zu geraten. Obwohl die ganze Nacht systematisch die Gegend abgesucht, Autos aufgehalten und Personenkontrollen durchgeführt wurden, konnten die Flüchtenden nicht gefunden werden. Sieben RumänInnen, von denen angenommen wird, dass sie aus dieser Gruppe stammen, wurden einen Tag später in Udine von der italienischen Polizei aufgegriffen und den österreichischen Behörden übergeben. Die RumänInnen wurden inzwischen alle nach Ungarn, von wo sie nach Österreich gekommen waren, abgeschoben.“

Der eingangs zitierte Artikel in der Graswurzelrevolution stammt vom Sommer 2016. Der angeführte Tatblatt-Bericht erschien 21 Jahre davor im September 1997.

„Die offiziellen Änderungen sind schon brutal genug,“ konstatiert Anja Svobodovna in dem Artikel Grenzpraktiken, eine Skandalisierung ungarischer und österreichischer Ausgrenzungspolitik, jüngste Gesetzesänderungen, die das Recht auf Asyl de facto abschaffen und die Existenz geflüchteter Menschen in eine ausweglose Illegalität manövrieren. „Die tatsächlichen Praktiken übertreffen diese noch um einiges,“ beschreibt Svobodovna eine unfassbare Situation.

Diese rassistischen Praktiken sind, wie der Tatblatt-Artikel aus dem Jahr 1997 belegt, nicht neu, sondern zieht sich quer durch die Geschichte(n). Möglich sind sie aber nur, wenn sie an einen breit etablierten rassistischen Grundkonsens anknüpfen können. Diesem Grundkonsens wird seit Jahren politisch und medial von einer sogenannten bürgerlichen, aber auch linksliberalen „Mitte“ der Boden aufbereitet, wie an dieser Stelle schon dokumentiert wurde.

Empörung und Skandalisierung greifen die rassistische Staatsgewalt (in Form von Waffengebrauch, Freiheitsentzug, Verweigerung von medizinischer Hilfe oder sicheren Unterkünften, sowie Verweigerung der Versorgung mit Lebensmitteln und Trinkwasser, Untersagung von Erwerbsmöglichkeiten, Einschränkung/Verbot der Bewegungsmöglichkeiten) bzw. den zweifellos vorhandenen rassistischen Grundkonsens einer männlich-weiß dominierten Gesellschaft nicht an, wie die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zeigen. So wie die Markierung autoritärer Politiken und ihrer Proponent_innen nicht zu einer Abwendung vom so bezeichneten „Rechtspopulismus“ führt. Und noch ein Kritikpunkt: Bekannte Erklärungsmuster wie Prekarisierung, Massenarbeitslosigkeit, zunehmende Ungleichheiten, Entindustrialisierung in der Gesellschaft taugen wenig als Begründung für die Anschlussfähigkeit an protofaschistische Apologet_innen. Der manifestierte Hass gegen Personen abseits der Mehrheitsgesellschaft, wie er in der oben verlinkten Kritik des widerwärtigen Spiegel-Artikels thematisiert wird, hätte demnach gar nicht sein dürfen. Der Beitrag erschien vor der Wiedervereinigung Deutschlands in einer Zeit relativer Vollbeschäftigung und unerschütterten Glaubens an ständiges Wachstum 1986.

Links:
Anja Svobodovna: Grenzpraktiken. Eine Skandalisierung ungarischer und österreichischer Ausgrenzungspolitik http://www.graswurzel.net/410/grenze.php
Tatblatt: Scharfe Schüsse an der Grenze https://www.nadir.org/nadir/periodika/tatblatt/82grenz.htm

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