Der Krocha 2010

wikipedia zitiert das Phänomen der Krocha als ein kurzfristiges und
eher lokales. Der langfristige und eher lokale Kracher der
2010-er-Jahre wird der Beteiligungshaushalt.
Es kracht ganz ordentlich im Gebälk der Kommunen. Der kommunistische Kremser Gemeinderat Franz Kral berichtet in seiner Bugetrede von Leistungskürzungen, Abgabenerhöhungen und trotzdem steigendem Schuldenstand.

Die Kleine Zeitung schreibt über die Rekordschulden in Graz, der zweitgrößten österreichischen Stadt, von über € 1 Milliarde. Der Präsident des österreichischen Gemeindebundes Mödlhammer (ÖVP) sieht ein Viertel aller Gemeinden in die roten Zahlen schlittern. In Deutschland zeigt sich ein ähnlich düsteres Bild: „Der Deutsche Städtetag prognostiziert bis 2013 Defizite von mehr als zehn Milliarden Euro.“

Die bankrotte Kommune wird zunehmend zur mitteleuropäischen Normalität.

Müllberge auf den Straßen, geborstene Wasserleitungen, Abwasserpfützen über Kanaldeckeln, desolate Schulen, defekte öffentliche Verkehrsmittel. Bilder aus dem Mezzogiorno? Lagos, South L.A. oder Kalkutta? Oder doch Berlin, St. Denis oder Gramais?

Pionierarbeit in Porto Alegre

Es war 1988, als in der sübrasilianischen Millionenstadt die Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT) die Kommunalwahlen gewann. Eine besondere Situation, in die eine ideologisch klar festgelegte linke Partei kam. Die PT hatte keinerlei Regierungserfahrung und der Bevölkerung fehlte es nach Jahren brutaler Unterdrückung an Kenntnissen in demokratischer Willensbildung, Selbstorganisation, Durchsetzung von Interessen und Kontrolle.

Porto Alegre: Von der Modellstadt zum World Social Forum
Porto Alegre: Von der Modellstadt zum World Social Forum

Die Arbeiterpartei hatte eine radikale Idee: Die Leute vor Ort sollen entscheiden, was sie am dringlichsten brauchen, wofür das begrenzte Gemeindebudget, das bislang die politische Elite verteilte, verwendet werden soll. Die Idee der Beteiligungsdemokratie entstand. „Direkte Demokratie und Entscheidungssouveränität des Volkes gehen über den klassischen Begriff ‚Bürgerrechte‘ hinaus, weil hier die Entscheidungsmacht durch Wahlen an ParlamentarierInnen, Regierende und ihre Parteien übertragen wird, ohne jede Garantie, dass das Mandat auch eingehalten wird“, schreibt der von 1997 bis 2000 amtierende Bürgermeister Raul Pont. Parallel zum Beteiligungshaushalt wurden in Porto Alegre auch die kommunalen Räte, Organe indirekter, konsultativer Vertretung, in denen Konzepte der öffentlichen Politik formuliert werden, gestärkt. Ein konkretes Beispiel dafür ist der Kommunalrat für die Rechte von Kindern und Jugendlichen. Dieser verfasst politische Konzepte, verwaltet den dafür vorgesehenen Kommunalfonds, betreut die entsprechenden Einrichtungen und stellt für die Bevölkerung unverzichtbare Dienstleistungen sicher.

Das erfolgreiche Modell des Beteiligungshaushaltes zog rasch internationale Aufmerksamkeit an sich. Unter dem „Diktat der leeren Kassen“ entwickelten zahlreiche europäische Mikroregionen ihre eigene Version des Beteiligungshaushaltes und einige Gemeinden wälzen damit wohl auch einen Gutteil an übertragener Verantwortung an die EinwohnerInnen über. Streicht euch das Frauenhaus selbst, könnte die Verlockung lauten.

Mädchentoiletten auf dem Fußballplatz?

Das deutsche Freiburg im Breisgau führte 2008 erstmals ein partizipatorisches Verfahren durch, bei dem die BürgerInnen bei Umfragen, Online-Foren und Haushaltsrechnern sowie der Stadtkonferenz ihre finanzpolitischen Schwerpunkte setzen konnten. Im Doppelhaushalt 2009/2010 fand erstmals das BürgerInnenvotum aus dem geschlechtersensiblen Beteiligungshaushalt Eingang. Das Votum hatte allerdings ausschließlich „beratende Funktion“ und war für den Gemeinderat nicht verpflichtend.
Annette Schubert, Vertreterin der Stadt Freiburg, stellt in einer Onlinediskussion klar, dass es im Beteiligungshaushalt auch um Verteilungsfragen geht und um deren Sichtbarmachung: „Bei Beteiligungsverfahren spielt ein gewisses Eigeninteresse immer eine Rolle, sich entweder für sich selbst oder eine Interessensgruppe zu engagieren. Das ist ja durchaus legitim. Allerdings versuchen wir bei unserem Verfahren auch klar zu machen, welche Leistungsbereiche auch reduziert werden müssen, will man einen anderen Bereich stärken. Wir versuchen in Beteiligungshaushalt auch Informationen an die Hand zu geben, wer eigentlich die Leistungen in Anspruch nimmt, also wer von einer Erhöhung profitiert oder auch nicht. Denn der Haushalt ist gesamtstädtisch.“

Wie entschieden die FreiburgerInnen? Die drei kommunalen Aufgabenbereiche mit den höchsten Steigerungen waren:

  • Schulische Betreuung (+24,7%)
  • Öffentlicher Personennahverkehr (+13,7%)
  • Schulträgeraufgaben (+10,1%)

Am meisten kürzten die beteiligenden FreiburgerInnen bei:

  • Wirtschaft und Tourismus (-23%)
  • Friedhöfe (-19,5%)
  • Stadtentwicklung und Bauen (-18,8%).

Wenn das Votum auch keinen BürgerInnenauftrag an die Kommunalpolitik darstellte, wurden dennoch Prozesse in Gang gesetzt, wie eine im Online-Forum gestellte Frage zum Themenkomplex geschlechtersensible Budgets eindrucksvoll zeigt:
„Sehr geehrte Frau Dr. Färber, damit die Angelegenheit nicht zu abstrakt bleibt, möchte ich konkret den Posten ‚Stadien und Sportplätze‘ im Freiburger Haushalt ansprechen. Im Jahr 2008 sind Ausgaben in Höhe von 830.800.– geplant. Wie werden die Mittel geschlechtergerecht verteilt? Neben dem Männerfußball fristet der Frauenfußball ein bescheidenes Dasein. Werden in diesem Bereich die Mittel einseitig zugunsten der Männer verteilt?

Die Freiburger Kommunalpolitik zeichnet sich nicht zwingend durch besondere Originalität aus. Freiburg liegt nämlich mit seiner Umsetzung des Beteiligungshaushaltes in Deutschland voll im Trend.

Karte: Beteiligungshaushalt in Deutschland
Karte: Beteiligungshaushalt in Deutschland

In Berlin-Lichtenberg wurde in Sachen Beteiligungshaushalt in Deutschland Pionierarbeit geleistet. Die dortigen Bezirksverantwortlichen setzten entscheidende Schritte weiter in Richtung echter Beteiligungsdemokratie: Mit dem Bürgerentscheid wird die Bezirksvertretung zur Umsetzung verpflichtet. Die Möglichkeiten der Teilnahme sind genau geregelt und reichen von Einsichtnahme in Unterlagen über Fragemöglichkeiten bis zur Einberufung von Einwohnerversammlungen und Einwohneranträgen. Berechtigt sind alle, die im Bezirk wohnen unabhängig von Herkunft und Reisepass.

Durch den Beteiligungshaushalt wurde in Berlin-Lichtenberg über die Sanierung von Sportstätten anders entschieden als geplant. In einer Stadtbibliothek wurden elektronische Medien angeschafft, weil beobachtet wurde, dass Jungs dann eher dieses öffentliche Bildungsangebot wahrnehmen. Hochschulen erhalten mehr Geld, wenn Leistungen in der Frauenförderung nachgewiesen werden.
Bei Kindern und Jugendlichen ist die Voraussetzung zur Teilnahme, dass der Freundeskreis mehrheitlich in Lichtenberg lebt, hier die Schule besucht wird oder der Arbeitsplatz liegt. Einen Beschluss des Kinder- und Jugendlichenparlaments muss die Bezirksverordnetenversammlung behandeln.

„Die große Glaubwürdigkeit des Beteiligungshaushalts besteht in seinen tatsächlichen Ergebnissen, in der verlässlichen Umsetzung aller seiner Beschlüsse für Investitionsvorhaben und Dienstleistungen, wie auch in der alljährlich veröffentlichten Leistungsbilanz […] für die notwendige Kontrolle durch die Bevölkerung. Nicht minder erwächst die Glaubwürdigkeit des Prozesses aus dem Vertrauen darauf, dass bei der Wahl der Delegierten und der Mitglieder des Haushaltsrats sowie bei den zu treffenden Entscheidungen jede Art von Manipulation oder Apparatemacht ausgeschlossen ist“, schreibt Raul Pont.

Mit seinem Zugang, der Perspektive zu gesellschaftlicher Veränderung, sieht Pont im Beteiligungshaushalt viel mehr an Möglichkeiten: „Schließlich hat die Praxis der teilhabenden Demokratie auch einen Demonstrationseffekt, ist ein Beispiel für andere Bereiche von Wirtschaft und Politik. Sie politisiert das Volk und regt zur Selbstorganisation an. Und natürlich beinhaltet sie auch die Möglichkeit, das Experiment aus der öffentlichen Sphäre heraus in den privaten Bereich auszuweiten.“

Bam Oida, ein richtiger Krocha!

Literatur:
Raul Pont: Hoffnung für Brasilien, Neuer ISP Verlag, Köln, 2003.

Links:
http://www.buergerhaushalt-lichtenberg.de/ Aktuelle Seite des Bürgerhaushalts Berlin-Lichtenberg
http://www.berlin.de/ba-lichtenberg/aktuelles/buergerbeteiligung.html Beschreibung der Beteiligungsmöglichkeiten in Berlin-Lichtenberg
http://www.freiburg.de/servlet/PB/menu/1175574_l1/index.html Der geschlechtersensible Beteiligungshaushalt in Freiburg
http://www.buergerhaushalt.de/ Seite der Bundeszentrale für politische Bildung und Servicestelle Kommunen in der einen Welt
http://www.buergerhaushalt-europa.de/ Der Bürgerhaushalt im europäischen Vergleich

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