Roma und Sinti in den Fängen des europäischen Grenzregimes

Harri Stojka mit Band, Roma Pride am 6.10.2103, Wien
Harri Stojka mit Band, Roma Pride am 6.10.2103, Wien

Langsam werden die eigentlichen Ziele der Erweiterung der Europäische Union klar: Bollwerke errichten, um die Machtzentren im Kern zu schützen. Dazu braucht es wirksame Durchgriffsrechte in „souveräne“ Politiken und Wirtschaften und auf das Leben der Menschen.

Bockige Staaten werden mit Geldzuwendungen oder mit dezenter Gewaltandrohung gefügig gemacht. Geschätzte 40 bis 60 Prozent des Schweizer Rechtsbestands sind in Folge bilateraler Verträge von EU-Recht beeinflusst. Im Schengener Grenzkodex, in dem die Begrenztheit Europas juristisch ausformuliert wurde, musste die Schweiz hinnehmen, dass künftige EU-Rechtserzeugungen übernommen werden müssen.

Der polizeiliche Umgang mit willkürlich auf Landkarten eingetragenen Grenzen hat nicht nur bewaehrte Tradition, für zu viele Menschen bedeutet er generationenübergreifende hoffnungslose Zukunft und tagtägliche Repression.

Plakat von Marika Schmiedt, Die Gedanken sind frei
Plakat von Marika Schmiedt, Die Gedanken sind frei

1864 wurde in Rumänien die Versklavung von Roma und Sinti abgeschafft. Die Reaktion auf die wieder erlangte Freiheit in Europa lautete Repression.

In der Schweiz arbeitete die 1996 konstituierte Unabhängige Experten*kommission nicht nur die Geschichte von Vermögens- und Kulturgütern während der Nazidiktatur auf, sondern auch die lange Geschichte der Repression gegen Fahrende, Roma und Sinti. Nach diesem Bericht (pdf) wurden im 19. und 20. Jahrhundert gegen Roma und Sinti Maßnahmen ergriffen, die meist mit dem Argument der Verbrechens- oder Armutsbekämpfung auf deren Assimilierung, Kontrolle, Sterilisierung, Fernhaltung und Wegweisung abzielten. In der Schweiz wurde 1906 für ausländische Roma und Sinti eine Grenzsperre eingeführt und ein Verbot der Beförderung mit Bahn oder Dampfschiff. Dieses Einreiseverbot war über das Ende des 2. Weltkrieges geltendes Recht.

Schweden kannte von 1914 bis 1954 ein Einreiseverbot für Sinti und Roma. Wie in der Schweiz wurden auch in Schweden eugenisch und rassistisch, d.h. mit Unterstützung von Kompliz_innen aus den Wissenschaften, begründete Zwangssterilisierungen an Fahrenden vorgenommen.

Im „Königreich“ Bayern etablierte 1899 Polizeipräsident Alfred Dillmann die sogenannte „Zigeuner“-Zentrale München. Ihre Hauptaufgabe bestand in der lückenlosen Erfassung aller Personen, die nach Auffassung Dillmanns dem Klischee von Fahrenden entsprachen. Noch im gleichen Jahr wurden bereits 1.242 Menschen in der Kartei erfasst.

1905, nach sechs Jahren polizeilicher Erfassungsarbeit, wurde die Kartei als sogenanntes „Zigeuner“-Buch mit steckbriefartigen Einzelangaben zu 3.350 Personen „zum amtlichen Gebrauche“ an Behörden in und außerhalb Bayerns verschickt. Lichtbilder inklusive.
„Ab dem 14. April 1911 waren qua Erlass von allen Roma und Sinti landesweit Fingerabdrücke zu nehmen und der Zentrale zu übermitteln, ab 21. April 1913 mussten die Standesämter Geburten, Heiraten und Todesfälle melden. […]
Allein zwischen 1900 und 1933 wurden in Deutschland etwa 150 Sonderverordnungen gegen Roma und Sinti erlassen, die genug Raum für eine zusätzliche Kriminalisierung boten.“ Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Zigeunerzentrale

Diese systematische Kriminalisierung auf Grund pseudowissenschaftlicher Forschungsergebnisse gefiel auch der Schweizer Politik. National- und Ständerat hatten 1910 einen Jahreskredit von 2000 Franken zur Finanzierung einer  sogenannten „Zigeunerregistratur“ bewilligt.
Zur Koordination der Kantone errichtete das EJPD (das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement) 1911 diese zentrale Registratur mit erkennungsdienstlichen Daten aller in der Schweiz aufgegriffenen ausländischen Roma und Sinti. Der Kanton Bern beschloss 1912 im revidierten Armenpolizeigesetz (wenigstens war die Sprache damals ehrlich), Roma, Sinti und Fahrende in Anstalten zu internieren. Die anderen Kantone schlossen sich dieser Praxis 1913 unter Federführung des EJPD an. Die Internierung diente der kriminalpolizeilichen Registrierung und Vorbereitung der Ausschaffung (Abschiebung).

Zur internationalen Koordination in der „Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ trat die Schweiz der 1923 in Wien gegründeten Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission (IKPK) bei. Diese sammelte die kriminalpolizeilichen Daten in einer internationalen Kartei, die ab 1938 für die Planung und Durchführung des Völkermords an Roma und Sinti zur Verfügung stand. Die Schweiz setzte ihre Zusammenarbeit mit der IKPK trotz des Völkermords an Roma und Sinti in der NS-Zeit fort und hielt an ihrer Grenzsperre fest. Roma und Sinti mit Schweizer Bürgerrechten gerieten ab 1926 ins Visier des Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse der Pro Juventute, das mit Kindswegnahmen die fahrende Lebensweise zu zerstören versuchte. Quelle: pdf http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D8246.php?topdf=1

 

Rückwärts in die Zukunft?

Marika Schmiedt: Ausstellung Die Gedanken sind frei / Exhibition Thoughts are free
„Am 14. April 2013 eröffnete der Linzer Kulturdirektor Dr. Stieber die von Stadtwerk­statt und Galerie Hofkabinett ver­anstaltete Aus­stellung. Bereits zwei Tage später wurden jedoch sämtliche 31 Plakate von der Polizei entfernt. Wie die Stadt­werkstatt erfuhr, geschah dies ‚offenbar im Auftrag des Bundesamt für Verfassungs­schutz‘. Weder „die Künstlerin noch wir als Veranstalter“ seien entgegen anders­lauten­den Behauptungen ‚über dieses Vorgehen informiert‘ worden.“ Quelle: http://www.roma-service.at/dromablog/?p=22539
Die Ausstellung soll übrigens wiederholt werden.

Es sind solche Erzählungen aus dem Heute, die stutzig machen.

Die Schweizer Wochenzeitung WOZ berichtete im August über die Anfänge des Projekts Agora. Ein Fremdenpolizist spaziert durch die Straßen Berns und sieht bettelnde Kinder. Er beschließt, dagegen etwas zu unternehmen.

Betteln ist erlaubt - Broschüre Bettellobby Wien
Betteln ist erlaubt – Broschüre Bettellobby Wien

„Bald einmal begann sich die Koordinationsstelle gegen Menschenhandel und Menschenschmuggel (KSMM) des Bundes für das Projekt zu interessieren, ebenso der Schweizerische Städteverband. Dann sprang das Bundesamt für Migration (BFM) auf. Verschiedene Polizeiorgane sähen sich ‚mit einer Zunahme der strafbaren Handlungen konfrontiert – von nicht in der Schweiz ansässigen Angehörigen von EU- und EFTA-Mitgliedstaaten, insbesondere von Roma‘, hiess es in einem Rundschreiben des BFM an die kantonalen Migrationsbehörden vom Juni 2010. Und weiter: ‚Die betreffenden Personen betreiben die Bettelei nicht etwa passiv, punktuell und vereinzelt, sie treiben ihr Unwesen vielmehr in organisierten Banden und im grossen Stil. Die minderjährigen Bettlerinnen und Bettler werden nicht selten in Netzwerken, die sie zu ihrem eigenen Nutzen einsetzen, ausgebeutet.'“ Quelle: http://www.woz.ch/1333/roma-in-der-schweiz/der-dominante-blick-der-fremdenpolizei

Diesen Befunden, deren polizeiliche Parameter Straftatbestände und Täter_innen sind und deren Datengrundlage stets geheim und nur allzu oft „ungenau“ sind, steht am Beispiel Agora eine fundierte soziologische Studie entgegen, die jedoch von den Schweizer Behörden nicht zur Kenntnis genommen werden will.
„Das ist auch eine Aussage über den Zustand unserer Demokratie und über die Kräfte, die darin wirken“ (Quelle: WOZ)

Roma und Sinti sind nach den sozialen Konstruktionen des Sicherheitsapparates, der seine Geschäfte mit beachtlicher Kontinuität seit Jahrhunderten verrichtet, ein einziges kriminelles Gemengelage.

Widerstand gegen REVA (Ethnic Profiling-Programm in Schweden)
Widerstand gegen REVA (Ethnic Profiling-Programm in Schweden)

Diese Kontinuität wirkt offensichtlich auch noch in Schweden, wo vor einigen Wochen bekannt wurde, dass die Polizei illegale Datenbanken über Roma pflegte. Vom Kind bis zu Greis_innen wurden alle erfasst: Ausweisnummern, Familienstammbäume und mit Pfeilen wurden die verwandtschaftlichen Beziehungen besonders hervorgehoben.
Auch wenn sich die schwedische Politik sofort für diesen Amtsmissbrauch entschuldigte, bleibt die Frage im Raum, wie die Polizei die Qualität dieser Daten nutzen wollte? Zudem sind digitale Daten nahezu beliebig vervielfältigbar, sodass tatsächlich niemand garantieren kann, dass die Einträge zu 4.000 Roma physikalisch vernichtet wurden.

In Erinnerung ist noch das deutsche Phänomen „Winterflüchtlinge“. Wieder einmal standen Roma wochenlang auf allen Titelseiten. Und wieder einmal wurden ihre Aussagen in ihren Herkunftsländern starken Diskriminierungen und Verfolgungen ausgesetzt zu sein, nonchalant vom Bürokraten*tisch gewischt: Die taz schrieb zur Masseneilabfertigung und -abschiebung: „werfen die CSU-Innenminister den Roma vor, sie würden missbräuchlich Asylanträge stellen und kämen nur nach Deutschland, um die vom Bundesverfassungsgericht angehobenen Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen.“

Thomas Huonker, der auch in der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz mitwirkte, beschreibt ähnliche Diffamierungsstrategien aus dem vorigen Jahrhundert: „Häufig als ‚Asoziale‘ stigmatisiert, fielen Roma und Sinti der repressiven Sozialpolitik zum Opfer und wurden zusammen mit Obdachlosen und Bettlern während Razzien im Herbst 1933 – die von einer Hetzkampagne gegen ‚unwürdige‘, ‚minderwertige‘ und ‚betrügerische‘ Fürsorgeempfänger begleitet waren – verhaftet und eingesperrt.“

Rassistische Werbung des britischen Innenministeriums operiert mit falschen Zahlen http://www.bbc.co.uk/news/uk-24452551 Credit: http://liberalconspiracy.org/
Rassistische Werbung des britischen Innenministeriums operiert mit falschen Zahlen http://www.bbc.co.uk/news/uk-24452551
Credit: http://liberalconspiracy.org/

In diese Kerbe wurde auch bei der letzten Dienstag abgehaltenen EU-Innenminister_innen-Tagung geschlagen. In einem Brief an Justizkommissarin Reding hatte der deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich gemeinsam mit drei weiteren europäischen Amtskollegen von der Kommission gefordert, „Maßnahmen zu prüfen, wie bei Fällen von Missbrauch von Sozialleistungen Sanktionen gegen EU-Bürger* verhängt werden könnten. Denn Deutschland und Großbritannien klagen seit Monaten über eine steigende Zahl von Hilfsanträgen. Etliche der Ansuchen werden von Roma aus Rumänien und Bulgarien gestellt – auch wenn das die vier Staaten, darunter Österreich, in ihrem Brief nicht explizit erwähnen.“

„Die meisten zahlen ein und bekommen nichts heraus“, sagte die Justizkommissarin.
„Bierzelt-Aussagen“, seien das, sagt Viviane Reding. Aus der sicheren Distanz, weder Roma noch Sinti zu sein.

 

News zu Sinti und Roma in Europa:

http://derparia.wordpress.com/
http://marikaschmiedt.wordpress.com/
http://pusztaranger.wordpress.com/

Fotostrecke: Die Gedanken sind frei – Vernissage am Baustellenzaun
https://secure.flickr.com/photos/79824083@N02/sets/72157633258055943/

Foto Credit:
http://liberalconspiracy.org/2013/07/23/by-urging-immigrants-to-go-home-the-govt-is-legitimising-a-national-front-slogan/

Betteln ist erlaubt: Broschüre zum Download
http://bettellobbywien.wordpress.com/2013/09/13/bettellobby-prasentiert-betteln-ist-erlaubt-broschure/

 

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