Die Gesiba und das Bleiberecht für alle

Sticker: Überhöhte Mieten? Vermieterterror? - Enteignung!
Sticker: Überhöhte Mieten? Vermieterterror? – Enteignung!

Wie derStandard.at berichtet, wurde ein Mieter von seiner Hausverwaltung aufgefordert, am Fenster geklebte Buchstaben, die sich „Bleiberecht für alle“ lesen, zu entfernen. Der Mieter Gerd Valchars brachte diese nach eigenen Angaben bereits 2008 an. Zwei Jahre später wurde auf diesem Blog ein Foto verwendet, das seine Forderung dokumentierte.
Verstörend an dieser Story ist, dass die Hausverwaltung Gesiba, die die „umgehende Entfernung“ der „öffentlich sichtbaren, politischen Parole“ verlangt,  historisch eng mit der fortschrittlichen „Siedler*bewegung“ verknüpft ist.
Anlässlich der Gründung der Gemeinwirtschaftlichen Siedlungs- und Baustoffanstalt (Gesiba) im September 1921 verkündete ihr erster Präsident Julius Deutsch:

„[…] soeben [ist] eine Organisation ins Leben gerufen worden, die für die Zukunft der Arbeiterbewegung und des Sozialismus bedeutsam werden kann.“
(Quelle: Helmut Weihsmann, Das Rote Wien).

Die Entfernungsaufforderung der Bleiberecht-Botschaft kommt just nach dem Wochenende, an dem die erzkonservative Die Presse titelte: Die Rückkehr des Roten Wien.

Um die Geschichte der Gesiba und der Wohnbaupolitik des Roten Wien verstehen zu können, muss kurz der historische Rahmen abgesteckt werden.

Wir befinden uns am Ende des 1. Weltkriegs und kurz nach der Ausrufung der 1. Republik. Unter der notleidenden Bevölkerung und unter den nach Wien gezogenen Soldaten und Geflüchteten herrschte eine vorrevolutionäre Stimmung. Elend, Hunger, Wohnungsnot führten zu einem Erstarken der damaligen Squatter_innenbewegung, die als „Siedlerbewegung“ in die Geschichtsbücher einging. An vielen Orten Wiens wurden so genannte Bretteldörfer errichtet und von der Polizei teilweise wieder abgerissen. Die Widerstandskämpferin gegen den Austrofaschismus Anni Haider¹ („Tränen statt Gewehre„) musste nach den Februarkämpfen 1934 in einem Bretteldorf an der Alten Donau auf der Flucht vor den christlich-sozialen Schergen* untertauchen.
Die frühen Marxisten* vernachlässigten die Wohnungsfrage. Friedrich Engels tat die Wohnungsfrage als Nebenwiderspruch ab, die alle ausgebeuteten Klassen beträfe, und erklärte sie kurzerhand als „im Kapitalismus nicht lösbar“.

Bereits während des Weltkriegs formierten sich im monarchistischen Österreich verschiedene bürgerlich orientierte, antiurbanistische Kleingärtner_innen, genauso wie proletarische anarchosyndikalistische und radikalsozialistische Gruppierungen, deren Landbesetzungen den Charakter einer Subsistenzwirtschaft hatten. Nach der Vertreibung des Feudalclans der Habsburger* wurden die Ziele politischer und die Aktivitäten der Squatter_innen konkreter. Ihre Unberechenbarkeit, ihre Heterogenität verstörte die regierenden Sozialdemokrat_innen wie auch die reaktionäre bürgerliche Elite. Der Druck der progressiven außerparlamentarischen Gruppen führte immer wieder zu Zugeständnissen seitens der Sozialdemokrat_innen. Im April 1921 zwang eine machtvolle Demonstration der Squatter* den amtierenden Bürgermeister Julius Reumann, die rasche Einführung eines Siedler*gesetzes und ein weitgehendes Enteignungsverfahren zu unterstützen. Druck erfolgte auch von reaktionärer Seite.  Zur gleichen Zeit wurde die Gesiba gegründet, die Siedler_innen unterstützte.

Das Enteignungsgesetz wurde freilich nie umgesetzt. Ein Umstand, den Alfred Georg Frei in seinem Buch Rotes Wien als „ein großes Manko“ bezeichnete.

Die Sozialdemokratie ging andere Wege

Der radikale Flügel des Proletariats wurde binnen kurzer Zeit politisch vereinnahmt oder/und in die Partei integriert. Landaneignungen wurden im Nachhinein legitimiert und den Siedler_innen Boden der Gemeinde Wien zur Bewirtschaftung, meist im (ungleichen, Stichwort: Arbeitslosigkeit) Tausch gegen ihre Arbeitskraft, überlassen.

Als erste Maßnahme wurde am 22. Oktober 1920 in einer Gemeinderatssitzung einem Antrag auf Förderung der SiedlerInnenbewegung stattgegeben. Grundstücke wurden überlassen, Haftungen für Kredite aufgenommen, Baumaterial zum Selbstkostenpreis zur Verfügung gestellt. 1921 wurde, nachdem 80.000 Squatter* auf die Straßen gegangen waren, die Einrichtung eines Siedlungsamtes beschlossen. 1923 folgte am Parteitag der SDAP (Sozialdemokratische Arbeiterpartei) ein Beschluss, der die Bautätigkeit nach einheitlichem Plan regeln sollte. Unter Rücksichtnahme auf vorhandene proletarische Organisationen wie verschiedene Gruppierungen der Siedler_innenbewegung wurden Adolf Loos, Josef Frank, Oskar Strnad, Peter Behrens und Josef Hoffmann mit der Erarbeitung eines Generalarchitekturplans beauftragt.
Ebenfalls 1923 wurde das Vorhaben präsentiert, binnen fünf Jahren 25.000 Wohnungen zu bauen. Das Wohnbauprogramm sollte erstmals auch aus allgemeinen Budgetmitteln und Anleihen bezahlt werden, in der Hoffnung damit auch die nicht-proletarische Stadtbevölkerung anzusprechen.
„Die Siedler* betrieben Stadtplanung und waren damit den Kommunen – auch dem ‚Roten Wien‘ – weit voraus. Sie versuchten ihre Interessen zu verallgemeinern, um so politisch-kulturelle Hegemonie zu erlangen.“ beschreibt Alfred Georg Frei den strategischen Ansatz der Landbesetzer_innen.

Durch die Befriedungs- und Reglementierungsmaßnahmen gerieten die Landbesetzer_innen jedoch zunehmend ins politische Abseits. Staatliche Zuschüsse versiegten. Seit 1924 baute die Gemeinde Siedlungen ohne dazwischen geschaltete Genossenschaften selbst. An die Stelle selbstverwalteter Wohnbauten, wie sie der Austromarxist Otto Bauer propagierte, trat die Fremdverwaltung durch die Gemeinde Wien.

Die Leistungen des Roten Wien sind bekannt: Mit dem Wohnungsanforderungsgesetz konnten zahlreiche leer stehende Wohnungen beschlagnahmt werden. 60.000 Wohnungen wurden neu errichtet. Die Mieten betrugen auf Grund rigoroser Mieter_innenschutzbestimmungen im Schnitt vier Prozent des Haushaltseinkommens.
Wenig bekannt ist jedoch, dass auch im Roten Wien die Zahl der Obdachlosen in die Hunderttausende ging.

Nach dem reaktionären Backlash 1927 wurde die Handlungsfähigkeit des Roten Wien zuerst fiskalisch eingeschränkt. Für das aus Landessteuern finanzierte Wohnbauprogramm fehlte zunehmend das Geld. 1934 gingen schließlich die Austrofaschist_innen auch militärisch gegen das Rote Wien vor.

Die Gesiba überstand die Zeiten bis heute. Als Aktiengesellschaft befindet sich die Gesiba heute zu 99,97% im Besitz der gemeindeeigenen Wien Holding. Von der Bedeutung für die Zukunft der Arbeiter_innenbewegung und des Sozialismus, wie Julius Deutsch sie vermutete, ist indes nur wenig zu bemerken. „Dass die Hauseigentümer sensibel sind, muss man verstehen“, wird ein Sprecher der Gesiba von derStandard.at in der Fenster-Causa Bleiberecht für alle zitiert.

Die Rückkehr des Roten Wien lässt weiter auf sich warten.

 


 

¹ Nach ihrer Flucht in die Tschoslowakei kehrte die Antifaschistin Anni Haider 1938 nach Österreich zurück. Am 22. September 1942 wurde Anni Haider wegen ihr Arbeit für die illegalisierte KPÖ, ein „hochverräterisches Unternehmen“, vor das Berliner Volksgericht gestellt und zu 15 Jahren Knast verurteilt. Bei dem Prozess mit angeklagt waren u.a. Margarete Schütte-Lihotzky, die in den frühen 1920er-Jahren Planungen für die Siedler*bewegung durchführte und für das städtische Siedlungsamt arbeitete.

Quellen:
Alfred Georg Frei: Rotes Wien. Austromarxismus und Arbeiterkultur.
Helmut Weihsmann: Das Rote Wien. Sozialdemokratische Architektur und Kommunalpolitik 1919-1934.
Margarete Schütte-Lihotzky: Erinnerungen aus dem Widerstand: Das kämpferische Leben einer Architektin von 1938–1945.

 

 

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